Am 31. Oktober 2011 wurde die Aufnahme in Ramallah frenetisch
bejubelt. Seither wird aber die Situation der Palästinenser zunehmend
bedrückender. Das überträgt sich auf fast jeden, der derzeit in den
Nahen Osten reist und an Checkpoints am eigenen Leib erfährt, was für
die Einheimischen täglicher Albtraum ist. In Jenin und Nablus spricht
man ganz offen von der 3. Intifada.
Meine Reise nach Israel und Palästina im Frühsommer 2012 beginnt am Flughafen in
München mit einer Überraschung: Ich gehöre zu einer kleinen Reisegruppe, die sich
aus Journalisten und Nahost-Kennern zusammensetzt, darunter eine jüdische
Journalistin die Israel vor 20 Jahren verlassen und die Staatsbürgerschaft zugunsten
der deutschen abgelegt hat. An der eigens für Flüge nach Israel und Palästina
eingerichteten „Halle F“ wird die Kollegin aus der Schlange herausgewunken und in
eine Kabine gebeten. Als sie eine gute Stunde später wieder zu unserer Gruppe
stößt, ist sie blass um die Nase – sie musste sich vollständig entkleiden und einer
körperlichen Untersuchung unterziehen. Ihr Mobiltelefon musste sie abgeben, weil
es, so das Sicherheitspersonal, auf Sprengstoff untersucht werden müsse.
Bei brütender Hitze von 30 Grad Celsius im Schatten kommen wir vollzählig in
Ramallah an, von wo aus wir unsere Reiseziele ansteuern werden. Es ist gerade
einmal ein Jahr her, dass einige Kollegen und ich zum letzten Mal hier waren, doch
es hat sich viel verändert. Zuerst fallen uns die vielen Neubauten und Bauprojekte
ins Auge. Ramallah ist das wirtschaftliche Zentrum Palästinas und das kann man an
allen Ecken der Stadt in Form des Bau-Booms sehen. Auf dem Al Manara-Platz in
der Stadt gibt es kleinere öffentliche Demonstrationen. Ebenso eine Alternativdemo
am Unabhängigkeitstag in Jerusalem vor dem Innenministerium, bei der die Demo
von Studenten und Künstlern mit ihren Sketchen eher wie eine Kulturveranstaltung
anmutet. Prominente Vertreter der israelischen Friedensaktivisten, wie Michel
Warschawski, nehmen ebenfalls daran teil und sind schnell mitten in einem
intensiven Meinungsaustausch mit den Studenten.
Eine gedrückte Stimmung liegt über dem Land
„Die Menschen wollen Frieden, sie wollen arbeiten und eine Zukunft für ihre Kinder“,
erklärt uns Polizeioffizier Kalil. Trotzdem fürchtet er, dass die Ruhe, die speziell in
Ramallah durch den wirtschaftlichen Aufschwung herrscht, trügerisch ist. Wir
erleben in der Tat eine sehr gedrückte Stimmung. Wie wir hören, liegt das auf Seiten
der Palästinenser auch an der Reaktion des israelischen Ministerpräsidenten
Benjamin Netanjahu auf die Aufnahme Palästinas in die UN-Organisation für Bildung,
Wissenschaft und Kultur (UNESCO). Noch am Abend der Aufnahme-Entscheidung
kündigte er an, in Ost-Jerusalem sowie in der Westbank weitere 2.000 Wohnungen
zu bauen. Außerdem drohte Israel, Zahlungen in Millionenhöhe zu stoppen, die der
Autonomiebehörde in Ramallah zustehen sowie die Steuer- und Zollrückzahlungen
an die Palästinenser. Die USA als größter Geldgeber, sowie Kanada, froren die
Zahlungen an die UNESCO vorerst ein.
Im Verlauf der nächsten Tage hören wir des Öfteren von einer nicht richtig greif-
oder sichtbaren Unruhe in der palästinensischen Bevölkerung, sie ist diffus überall
spürbar. Polizeioffizier Kalil drückt aus, was viele denken und nennt die Stichworte:„Behinderung des palästinensischen Warenexports“, „Siedlungsbau“ und„Wasserzuteilung“. Er rechnet in absehbarer Zeit mit der schon mehrmals
angekündigten 3. Intifada. Die nach seinen Worten hoffentlich mit friedlichen
Demonstrationen und ohne offene Gewalt stattfindet.
Zum Wasserproblem berichtet uns der Hydrogeologe Clemens Messerschmid, dass
seit den „Oslo-Verträgen“ von 1993 die Palästinenser nur von Israel genehmigte
Wasserbohrungen durchführen dürften. Da Genehmigungen nur sehr selten erteilt
werden, sind nur kleine Mengen Wasser pro Kopf in Palästina verfügbar (zum
Vergleich: durchschnittlicher Wasserverbrauch pro Person und Tag: Deutschland
126 Liter, Israel 245 Liter, Palästina 63 Liter).
Die palästinensischen Bauern werden teilweise durch Wegsperrungen behindert,
sodass sie auf dem Weg zu ihren Ackern enorme Umwege in Kauf nehmen müssen.
Würde ein Palästinenser versuchen, eine Wegsperre in Form eines angeschütteten
Erdhaufens zu beseitigen, hätte dies die Konfiszierung der Baugeräte sowie die
Verhaftung des Bauern zur Folge.
Die „B“- und “C“-Gebiete der Westbank sind Bereiche, in denen Israel Siedlungen
auf palästinensischem Boden errichtet hat. Die Straßenschilder sind hier in der
Regel 3-sprachig beschriftet: Hebräisch, Arabisch, Englisch. Auf verschiedenen
Fahrten in Richtung Jerusalem sehen wir viele Straßenschilder, auf denen der
arabische Text übersprüht ist. Unser Taxifahrer erklärt uns, dass Jerusalem für
Israelis nicht „verhandelbar“ sei, daher werden auch die Straßenschilder, meist von
orthodoxen Juden, von arabischer Beschriftung „befreit“. In Jerusalem hören wir,
dass das palästinensische Ost-Jerusalem verstärkt besiedelt werde. Palästinenser
würden nach Möglichkeit "rausgekauft" oder enteignet, um israelische Siedler
unterzubringen. Wir haben Gelegenheit, dazu mit Dr. Meir Margalit, Mitglied der
Stadtverwaltung von Jerusalem, zu sprechen. Er räumt ein, dass im
palästinensischen Ost-Jerusalemer Stadtteil Sheikh Jarrah jüdische Siedler
versuchen, illegal die Häuser von 200 palästinensischen Familien durch Konfiszieren,
Kauf mittels Strohmännern oder durch Beschlagnahmung bei Abwesenheit
(z. B. Arbeit in Ramallah) in ihren Besitz zu bringen. Gemeinsam mit israelischen
Friedensaktivisten demonstrieren Palästinenser wöchentlich erfolglos gegen diese
Vorgehensweise. Dr. Meir Margalit hebt die Schultern und sagt resignierend:„Wir leben in einer sehr schwierigen Zeit“.
Ein Leben, das immer hoffnungsloser wird
Nasser Gawi, ein betroffener Palästinenser, ist ebenfalls zugegen und fügt hinzu:"Sie wissen nicht, was für ein Leben wir hier führen.“ Damit meint er zum Beispiel,
dass 70 % der Palästinenser in Ost-Jerusalem unter der Armutsgrenze leben.
Dr. Margalit räumt die Missstände offen ein und führt aus, dass die Palästinenser
37 % der Bevölkerung in Ost-Jerusalem bilden, ihnen jedoch nur 8-9% vom
städtischen Sozial-Budget zugeteilt würden. Aus „Siedler“-Sicht sieht das anders
aus, wie von Bruce Bril aus der israelischen Siedlung Kfar Eldad nahe Betlehem
zu hören ist.
Er behauptet, nach Informationen aus der palästinensischen Universität Bir Zeit
nahe Ramallah wären angeblich 64 % der Palästinenser damit einverstanden, sich in
den Irak umsiedeln zu lassen. Als wir bei der genannten Universität nachfragen,
ist von einer solchen Auskunft keine Rede. Bruce Bril jedenfalls will am liebsten ein
rein jüdisches Israel ohne Palästinenser. Wie zur Bekräftigung sagt er, seine Kinder
würden streng jüdisch erzogen, um so die Tugenden der jüdischen Bürger zu
schärfen. Doch wir stellen fest, dass es unter den Siedlern auch völlig andere
Einschätzungen gibt. So erklären uns zwei junge Frauen, die aufgrund von
israelischer Werbung in Russland nach Israel kamen, sie wollten so schnell wie
möglich wieder aus den Siedlungen heraus. Die inzwischen auf 770 Kilometer
angewachsene Mauer zwischen Israel und palästinensischem Gebiet zeige jeden
Tag, dass etwas nicht stimme.
Die seltsamen Behandlungen an den Checkpoints
Den Eindruck, dass etwas nicht stimmt, dass sich eine gefährliche Stimmung
aufbaut, erleben wir selbst bei jeder Fahrt von Palästina nach Israel. Am Checkpoint
Kalandia bei Ramallah müssen wir umkehren, an einem anderen Checkpoint
kommen wir nach einer Stunde Umweg ohne große Verzögerung durch. Wir sehen,
dass wir nicht allein mit diesen Erlebnissen sind: Eine Familie mit 3 Kindern will den
Checkpoint passieren, muss aber nach ca. 40 Minuten Warten umkehren, da nicht
der richtige Stempel für die Kinder im Pass ist. An einem anderen Tag erleben wir
auf’s Neue Probleme an einem Checkpoint: Nach einer Stunde sind alle bis auf zwei
Teilnehmer unserer Gruppe bereits auf der israelischen Seite. Die zwei Kollegen
werden abgewiesen mit dem Hinweis, der Checkpoint werde nun geschlossen. Für
uns bedeutet dies, dass alle, die den Checkpoint bereits passiert hatten, wieder
zurück müssen. Also fahren wir erneut einen langen Umweg zu einem anderen
Checkpoint, wo wir problemlos alle nach Israel eingelassen werden. Wir empfinden
das Prozedere als Schikane und haben es in dieser Form in all unseren bisherigen
Reisen in den Nahen Osten noch nie erlebt. Am Abreisetag planen wir nach diesen
Erlebnissen sicherheitshalber fünf Stunden Fahrt für eine Strecke von 80 Kilometern
zum Flughafen ein. Das ist gut, denn wir haben wieder Probleme am Checkpoint
Kalandia. Nach vielen Umwegen und langem Warten schaffen wir es pünktlich zum
Flughafen und steigen mit gedrückter Stimmung in die Maschine. Meine Kollegin, die
auf dem Hinflug ihr ganz besonderes Erlebnis hatte, erhielt ihr Gepäck in München
nach fünf Tagen.
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Flying Checkpoint –
übersprühte arabische Ortsnamen.
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Ein typischer Blick aus dem Fenster:
Palästinenser (vorne) blicken auf eine auf ihrem
Gebiet errichtete israelische Siedlung
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Barrikaden bieten täglich neue unangenehme Überraschungen für Palästinenser, die zu ihrer
Arbeit wollen. Wer versucht, sie wegzuräumen,
wird verhaftet.
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Gefällte Olivenbäume – Israelis bezeichnen viele
Aktionen als „Sicherheitsmaßnahme“.
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Warteschlangen am Checkpoint Kalandia:
Wer hier zur israelischen Seite durchgelassen
wird und wer nicht, das entscheiden die
Sicherheitskräfte nach Belieben.
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Im Checkpoint Kalandia :
Kontrolle auf dem täglichen Weg zur Arbeit
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Über den Dächern von Hebron.
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Altstadt in Hebron.
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Hausbesetzer in Sheikh Jarrah – Ost-Jerusalem. |
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